Das A und O des Lektorierens oder:
Sorgfalt, Präzision, Kreativität und ihre intime Beziehung zu Texten
Wer einmal einen Text ernsthaft auf Fehler in Orthografie, Grammatik und Zeichensetzung überprüft hat, weiß es: Schon beim Korrigieren ist ein hohes Maß an Genauigkeit gefragt. Besondere Sorgfalt ist aber auch und gerade bei dem Part geboten, der über das reine Korrigieren hinausgeht: dem Lektorat. Denn hier gilt es zu entscheiden, an welchen Stellen zugunsten einer verbesserten Darstellung der Aussage in den Text eingegriffen werden darf, soll – oder sogar muss.*
Verschiedene Ebenen
Die Optimierung von Texten vollzieht sich also auf mehreren Ebenen: Während das Korrektorat sich auf den Text in seinem finalen Zustand richtet (bekannt unter dem Stichwort »Schlussredaktion« bei Zeitungsverlagen), geht es beim Lektorat darüber hinaus meist um Eingriffe in den Stil. Diese können sowohl auf der Ebene der Lexik, also einzelner Wörter, liegen als auch ganze Sätze betreffen, die zugunsten schönerer, prägnanterer oder geschmeidigerer Alternativen umgeformt werden.* In selteneren Fällen, etwa bei inhaltlichen Unstimmigkeiten oder fehlender Stringenz in der Gedankenführung, kann es auch um größere Textgebilde wie Absätze oder ganze Kapitel gehen. Dann kommt die Kommentarfunktion von Word zu ihrem Recht.
Präzise, klar oder schön?
Beim Lektorat kann man also zweierlei Kriterien unterscheiden, die teils klar voneinander abgrenzbar, teils nahezu unauflöslich ineinander verschränkt sind: Präzision, Richtigkeit und Klarheit einerseits, Ästhetik und einen angenehm fließenden Sprachduktus andererseits. So kann eine E‑Mail, die ein Mitglied des Verbands der Freien Lektorinnen und Lektoren (VFLL) über eine Verbandssitzung schreibt, einmal als nüchterner Bericht abgefasst sein, in dem die einzelnen Tagesordnungspunkte ohne Ausschmückung der Reihe nach aufgezählt sind. Sie kann aber auch wichtige Informationen enthalten und zugleich gespickt sein mit Anspielungen auf gemeinsame Bekannte, karikierenden Beschreibungen einzelner Mitglieder und deren Wortbeiträge oder anderen Bemerkungen, die den Witz der Verfasserin aufblitzen lassen.
Dem Verfasser der ersten E‑Mail geht es um eine unmissverständliche, lückenlose Wiedergabe der Sitzung – um Eindeutigkeit und Richtigkeit also. In der zweiten E‑Mail halten sich Inhalt und die virtuose Form womöglich genau die Waage. Wer diese Nachricht erhält, ist nicht nur informiert, sondern wird auch unterhalten. Und in diesem Fall ist nicht zuletzt das Wie, der ästhetische Einsatz der Sprache, der Schlüssel zur Unterhaltung. Man kann sich noch eine dritte Version vorstellen, deren Verfasserin noch ein paar verbale Pirouetten extra schlägt. Sie haben ihren Reiz, lassen den Empfänger aber über das im Verlauf der Sitzung Beschlossene im Unklaren. (Wir nähern uns langsam den intrikaten Verschlingungen von Dichtung und Wahrheit und damit dem belletristischen Bereich.)
Während die Anforderungen an Eindeutigkeit und Präzision in Wissenschaft und Technik besonders hoch sind, geht es in anderen Bereichen – dazu zählen Werbung und Kommunikation – vor allem um eine ansprechende Oberfläche. In der Belletristik, der sogenannten schönen Literatur (vom franz. belles lettres), sind dagegen ein unverwechselbarer Stil und eine lebendige Sprache das A und O.
Was für ein Text?
Man sieht also: Die Kriterien, die an gute und verbesserte Texte angelegt werden, sind in hohem Maße abhängig von der Art des jeweiligen Textes. Geht es um einen wissenschaftlichen Artikel, den Beitrag für einen Sammelband oder eine Dissertation, dann steht die Genauigkeit bei der Darstellung von Theorie, Methode und Argument im Zentrum. In das Gebiet des Wissenschaftslektorats fallen neben den genannten Texten auch Seminar- und alle Arten von Abschlussarbeiten wie Bachelor‑, Master- und Diplomarbeiten, außerdem Habilitationsschriften.
Ganz anders stellt sich die Gewichtung bei Texten aus Werbung und Kommunikation dar. Neben Klarheit sind hier ein geschmeidiger Klang und ein Höchstmaß an Eingängigkeit im Fokus: Die Imagebroschüre macht in wenigen, prägnanten Sätzen deutlich, wofür Unternehmen und Marke stehen. Die Website kommuniziert übersichtlich und gut strukturiert die verschiedenen Angebote und Services. Für Werbetexte gilt außerdem: Je kürzer der Text, desto wichtiger die Wahl des »richtigen« Wortes und desto höher die Anforderungen an eine Rhythmisierung der Sprache.
Kommen wir zur letzten der eher widerwillig in Absätze gezwängten Textarten: der belletristischen. Widerwillig, weil die schiere Vielfalt an Möglichkeiten, Wörter, Sätze und Seiten zu kombinieren, auf dass etwas anderes herauskomme als ein dem praktischen Nutzen zugedachtes Schriftchen, jede weitere Einordnung hilflos holzschnittartig erscheinen lässt. Wie ein schon im Augenblick seiner Anpassung im Atelier zu eng gewordenes Korsett, das seitdem nutzlos in der Ecke steht.**
* Nach Möglichkeit nehme ich alle Korrekturen oder Verbesserungen anderer Art (hinsichtlich Stil, Stringenz, Kohärenz von Text oder einzelnen Absätzen) entweder im Überarbeitungsmodus in Word oder im PDF vor, sodass selbst solche Änderungen, die aus meiner Sicht notwendig sind, immer nur als Vorschläge angezeigt werden und somit von der Kundin oder dem Autor auch abgelehnt werden können.
**Der Absatz endet abrupt, weil nicht mehr zu sagen ist, als dass die besagte überbordende Vielzahl an Denkbarkeiten, die darin liegt, Sachen, Menschen, Verhältnisse, Landschaften, Regime, Zeitläufte und Roboter literarisch auszumalen, einer je angemessenen Behandlung durch die Lektorin harrt.
Dr. Dagmar Bruss Lektorat Text Übersetzung
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